Chile und der Putsch für den freien Markt

Von Erhard Stackl · · 2023/Sep-Okt
Putsch am 11. September 1973: Chilenische Soldaten ziehen vor dem Regierungspalast La Moneda in Santiago auf. © Felipe Orrego / TopFoto / picturedesk.com

Fünfzig Jahre nach dem blutigen Staatsstreich, der Chile in ein Experimentierfeld des Neoliberalismus verwandelte, sucht das Land eine neue, menschlichere Identität.

Am 14. September 1973 rief Admiral José Toribio Merino, ein Mitglied der Junta, in Santiago de Chile einen jungen, an der Universität von Chicago ausgebildeten Ökonomen namens Sergio de Castro zu sich und ernannte ihn zum Chefberater im Wirtschaftsministerium. Drei Tage davor hatten Chiles Militärs unter Führung von Armeechef Augusto Pinochet die gewählte Linksregierung von Präsident Salvador Allende in einem blutigen Staatsstreich gestürzt.

Sofort begannen politische Umwälzungen, die die Welt nachhaltig veränderten: die neoliberale Revolution. Während draußen bewaffnete Soldaten linke Student:innen aus den Unis und Arbeiter:innen aus den Armenvierteln zusammentrieben, in Fußballstadien wegsperrten, folterten und ermordeten, machte sich de Castro an den Umbau des Systems. Schon vorher hatte er mit einigen Mitstreitern – wie er jung, an derselben US-Uni ausgebildet und deshalb „Chicago Boys“ genannt – das Projekt auf 500 Blatt Papier zusammengefasst und vervielfältigt. „Der Ziegel“ („El Ladrillo“) wurde dieses Kochbuch des Neoliberalismus genannt.

Von Staat zu privat. Arme Entwicklungsländer wie Chile versuchten damals traditionell mit Staatshilfe ihre eigene Industrie aufzubauen, vor allem, indem sie hohe Einfuhrzölle einhoben. Allendes Linksregierung hatte auf dieser Basis die staatlichen Eingriffe verstärkt, Preise festgesetzt und Großgrundbesitzer sowie große ausländische Firmen, etwa im Kupferbergbau, enteignet.

Die „Chicago Boys“ gingen nicht nur daran, die Allende-Reformen rückgängig zu machen. Sie kippten auch die ganze Ideologie von der geschützten nationalen Industrie. Die Zölle sollten abgebaut, Wirtschaft und Gesellschaft komplett den Gesetzen des freien Markts ausgesetzt werden. Weit über das hinaus, was damals in Industrieländern Nordamerikas und Europas üblich war, privatisierte Chile stufenweise alle Lebensbereiche: Gesundheitswesen, Bildung und Pensionen, aber auch Wasserversorgung, Straßenbau und sogar Gefängnisse. Nur Armee, Polizei und Armenhilfe blieben Aufgaben des Staats.

In der ersten Phase stürzte diese Revolution das Land in eine tiefe Krise. Billigimporte ruinierten Chiles Industrie, hunderttausende Jobs gingen verloren, mehr als die Hälfte der Bevölkerung geriet in Armut. Erst nach und nach begann der Aufbau neuer, wettbewerbsfähiger Wirtschaftszweige, etwa der Export von Trauben und Wein, Kirschen und Avocados. Damit werde aber, wie Kritiker:innen meinen, eigentlich „Wasser exportiert“, das im Laufe der Zeit für die Bevölkerung knapp geworden ist.

Aufstieg und Fall. Begonnen wurde mit der „Vermarktung von allem“ vor genau fünfzig Jahren. Doch erst jetzt, da in diesem südamerikanischen Land seit März 2022 mit Gabriel Boric (37) der am weitesten links stehende Präsident seit Salvador Allende regiert, wird vom Ende des „chilenischen Modells“ gesprochen.

Nach einem halben Jahrhundert schreibt erstmals auch ein Insider über den „Sturz des Neoliberalismus“: Sebastián Edwards, aus einer der mächtigsten Familien Chiles stammend, an der Universität von Chicago ausgebildet und dort mit Professoren wie dem neoliberalen Guru Milton Friedman bekannt, zeichnet in seinem Buch „The Chile Project“ Aufstieg und Fall der „Chicago Boys“ minutiös nach. Den gängigen Jubelberichten, dass deren Reformen Chile zu einem Wirtschaftswunderland gemacht hätten, setzt er bittere Wahrheiten entgegen. Etwa die, dass die Militärs die Reformen mit vorgehaltenem Gewehr durchsetzten und die Rechte der Arbeitenden – Gewerkschaftsfreiheit, Kündigungsschutz – drastisch einschränkten. Das sei, so Edwards, die „Ursünde“ dieser Revolution: „In einem demokratischen System wäre sie nicht möglich gewesen.“

Chiles Schlüsseljahre

1970. Es galt als Weltsensation, dass in Chile erstmals ein revolutionärer Marxist bei Wahlen siegte. Als Kandidat der „Unidad Popular“ aus Sozialisten, Kommunisten und linken Christen erreichte Salvador Allende in der Volkswahl mit 36 Prozent Platz eins. Im Kongress stimmten dann 153 von 188 Abgeordneten für Allende, der sofort Lebensmittelpreise und Mieten einfror.

1973. Die Verstaatlichung der Kupferminen hatte Washingtons Zorn erregt. LKW-Fahrer lähmten das Land mit US-finanzierten Streiks. Die Politik für die Armen stieß auf Ablehnung Reicher und der Mittelschicht, sie forderten das Militär zum Handeln auf. Am 11. September schlugen die Militärs zu, Allende fand den Tod. General Augusto Pinochet machte sich zum Präsidenten.

1980. Ausgerechnet am 11. September veranstaltete Pinochet die Farce eines Referendums, mit dem er die für ihn maßgeschneiderte Verfassung bestätigen ließ (ohne Wähler:innenverzeichnis und mit Werbeverbot für politische Gegner:innen). Schockartige neoliberale Reformen ließen Fabriken und Banken krachen. Das Land brauchte Jahre, um der Massenarmut zu entkommen.

1988. Nach 15 Jahren Diktatur stellte sich Diktator Pinochet einem neuerlichen, diesmal regulären, Referendum über eine weitere „Amtszeit“ von acht Jahren. Zur allgemeinen Überraschung verlor er mit 56 Prozent Nein-Stimmen. Chile kehrte zur Demokratie zurück, bis 2022 regierten abwechselnd Mitte-links- und konservativ-rechte Präsident:innen.

1998. Auf Besuch in London, wo Margaret Thatcher eine Bewunderin war, wurde Exdiktator Pinochet aufgrund eines spanischen Haftbefehls als Folterer festgenommen und unter Hausarrest gestellt. Nach einem Jahr erlaubten ihm die Briten „aus humanitären Gründen“ die Heimreise. In Chile stand er bis zu seinem Tod mit 91 im Jahr 2006 nie vor Gericht.

2019. Nach kleineren Protestwellen kam es gegen Jahresende zum Volksaufstand gegen die Ungleichheit. Ein bisher ergebnisloser Prozess für eine neue Verfassung kam in Gang. Im Dezember 2021 gewann mit Gabriel Boric erstmals ein Linker in der Tradition Allendes mit 56 Prozent die Präsidentenschaftswahl. Mangels stabiler Mehrheit im Kongress bleibt Chiles Umbau sein fernes Ziel.

Blutige Bilanz. Nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 zogen Menschenrechtler:innen Bilanz: 2.279 Oppositionelle hatte das Pinochet-Regime „verschwinden“ lassen und die meisten davon ermordet. Genauere staatliche Nachforschungen ergaben 2011, dass rund 40.000 Menschen gefangen, gefoltert oder in anderer Weise verfolgt worden waren, eine Viertelmillion trieb das Regime ins Exil.

Henry Kissinger, in den 1970ern Sicherheitsberater von US-Präsident Richard Nixon, hatte darauf gedrängt, die Regierung von Salvador Allende zu stürzen, weil ihr Erfolg „ansteckend“ sein könnte. 1976 bedankte sich der Nixon-Berater persönlich beim Putschgeneral Pinochet und versprach weitere Unterstützung. Kissinger, soeben 100 geworden, hat darüber nie Bedauern geäußert.

Edwards beschreibt in seinem Buch, dass US-Regierungen schon in den 1950er Jahren Entwicklungshilfe mit ideologischer Abwehr kommunistischer Gefahren verbanden. Aus diesem Grund kam die Kooperation der Katholischen Universität von Santiago mit Chicago zustande. Und Nobelpreisträger wie Milton Friedman und der in Österreich geborene Friedrich August Hayek reisten selbst nach Chile zu Diktator Pinochet, um das neoliberale Experiment zu beobachten. Hayek fand gar, dass ihm eine wirtschaftsliberale Diktatur lieber sei als eine sozialistische Demokratie.

Chile

Hauptstadt: Santiago de Chile

Fläche: 756.700 km² (neunmal so groß wie Österreich)

Einwohner:innen: 19,1 Millionen (Schätzung 2020)

Human Development Index (HDI): Rang 42 von 191 (Österreich 25)

BIP pro Kopf: 15.355 US-Dollar (2022, Österreich: 52.131 US-Dollar)

Regierungssystem: Präsidentielle Demokratie. Staats- und Regierungschef ist seit März 2022 Gabriel Boric von der „Convergencia Social“, einem Teil des linken Parteienbündnisses „Frente Amplio“.

Gegen das „Modell“. Chile kehrte 1990 zwar zur Demokratie zurück, aber wirtschaftlich wurde das „Modell“ beibehalten. Erst 2006 kam es zu massenhaften, von Schüler:innen getragenen Protesten gegen das ebenso neoliberal geprägte Bildungssystem (Gabriel Boric war damals schon dabei).

Gleichzeitig bekamen die ersten älteren Chilen:innen Pensionszahlungen nach dem neuen, privaten System. Sie erhielten etwa ein Viertel des letzten Lohns, viel weniger, als ihnen versprochen worden war. Weil sich die Expert:innen kühl darauf zurückzogen, nur die Gesetze des Marktes (und der Versicherungsmathematik) anzuwenden, kam es sogar dazu, dass Frauen, die gleich viel auf ihr privates Pensionskonto eingezahlt hatten wie Männer, monatlich eine geringere Pension erhielten, weil sie ja eine höhere Lebenserwartung haben.

Mit solchen Beispielen erklärt Edwards, wie es in Chile zur Ablehnung des „Modells“ kam, das Arme als Almosenempfänger:innen abstempelt und alle übrigen einer harten Wettbewerbsgesellschaft aussetzt, die für den Großteil der Bevölkerung einen würdelosen Überlebenskampf bedeutet, während wenige einen bequemen Lebensstil genießen.

Ende 2019 kam es zur „gesellschaftlichen Explosion“, dem „estallido social“, mit wochenlangen Massenprotesten gegen die Ungleichheit. Die damalige rechte Regierung einigte sich mit Teilen der Opposition darauf, eine neue Verfassung anzustreben, weil die unter Pinochet erlassene das „neoliberale Modell“ einzementierte. Bis zum 50. Jahrestag des Putsches sollte sie fertig sein.

Zu Salvador Allendes 115. Geburtstag bot heuer ein Straßenhändler vor seinem Denkmal Tücher mit Porträt und Aufschrift „Der Traum existiert“ an. © Esteban Felix / AP / picturedesk.com

Boric gegen Rechts. Doch es kam anders: Der den Wähler:innen vorgelegte Entwurf, in dem eine progressive verfassungsgebende Versammlung auch Rechte Indigener, von Frauen und der LGBTIQ+-Community festgeschrieben hatte, wurde in einer Volksabstimmung im September 2022 mit großer Mehrheit abgelehnt. Weit rechte Parteien hatten vor angeblichen „Privilegien“ für Minderheiten und einem Rückfall in den „Kommunismus“ gewarnt. Seither weht in Chile der Wind aus dieser Richtung.

Nicht einmal als Präsident Boric vorschlug, alle Parteien sollten zum Putschgedenken feierlich versprechen, nie mehr mit Gewalt aufeinander loszugehen, machten die Rechten mit. Angeführt von den ultrarechten „Republikanern“ Chiles verbreiteten sie stattdessen die Parole, dass „unter Pinochet nicht alles schlecht“ gewesen sei.

Nach außen gibt sich Boric ungebrochen. Er will nun, zur Not ohne neue Verfassung, Chiles System Stück für Stück ändern. So sollen die reichen Lithium-Vorkommen nicht bloß exportiert werden, sondern zum Aufbau einer eigenen Batterie-Industrie dienen. Mit staatlichen Mehreinnahmen will er das kaputte System, etwa bei Bildung und Pensionen, reparieren. „Wir haben die moralische Verpflichtung, hier Lösungen zu finden“, sagte Boric der BBC.

Erhard Stackl ist freiberuflicher Autor und Journalist sowie Herausgebervertreter des Südwind-Magazins.

Sebastián Edwards

The Chile Project.  The Story of the Chicago Boys and the Downfall of Neoliberalism  

Princeton University Press, 2023, 343 Seiten

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